Kirchenbrand (Teil 1)
Am Vorabend des 4. Advents wurde in der Evangelischen Kirche in Eitorf ein Gottesdienst gefeiert. Es war der 22. Dezember 2001 um 18.00 Uhr. Liturgin dieses Gottesdienstes war Pfarrerin Pulwey-Langerbeins. Anschließend löschte man die Kerzen am Adventskranz, schaltete die Lichter aus, verschloss die Kirche und verließ den Ort. Circa um 22 Uhr kam eine junge Bewohnerin des Alten Pfarrhauses, Bahnhofstr. 17, nach Hause und sah hinter den Fenstern der Kirche helles Licht. Sie wunderte sich über die Beleuchtung zu dieser ungewöhnlichen Zeit, dachte aber nicht weiter darüber nach.
Gegen 4.00 Uhr morgens klingelte bei mir das Telefon. Es war die Polizei in Eitorf: „Aus dem Turm Ihrer Kirche kommt Rauch. Können Sie sofort kommen?“ Der Turm ist aus Backstein. Einzig die Glockenhalterung ist aus Holz. Es kann nicht Feuer fangen. Die einzige Öffnung von der Kirche zum Turm ist eine kleine Luke im Kirchendach. Ein Mann kann dort nach oben steigen. Wenn der Rauch durch diese abgedichtete Luke schon nach oben dringt, dann herrscht in der Kirche ein verheerender Brand und alles ist schon zu spät. – Diese Gedanken schossen mir beim Anziehen durch den Kopf.
Als ich an der Kirche ankam, waren Polizei und Feuerwehr da und hatten bei ihrem eiligen Versuch, die Kirchentüre zu öffnen, schon das Schloss zerstört. Wir drangen durch ein Seitenfenster ein und öffneten den Haupteingang von innen. Als ich am Eingang zur Kirche im Obergeschoss den Schlüssel im Schloss drehte, fühlte ich das Holz glühen. Aus Angst vor einer Explosion traute mich nicht zu öffnen. Die Männer der Feuerwehr nahmen mich nach hinten und öffneten. Unbeschreibliche Hitze und beißender Rauch schlug Ihnen entgegen. Der Kirchenraum lag in völliger Finsternis. Die Hitze war so extrem, dass er auch mit Schutzkleidung nicht betreten werden konnte. Die Lampen konnten den dichten Rauch nicht durchdringen. Die Männer schlossen die Tür und baten mich um Erlaubnis, die Kirchenfenster einzuschlagen, um von außen zu löschen. Als wir in den Gemeindesaal im Erdgeschoss eindrangen, loderte dort vorne auf der Bühne ein Feuer. Was dort brannte, waren die Reste des heruntergestürzten Altars und Teile der Holzdecke. Im Schein des Feuers erkannten wir oben ein riesiges Loch, das das Feuer über Stunden in die Decke gefressen hatte.
Immer mehr Feuerwehren waren inzwischen von den Nachbargemeinden eingetroffen. Mit sechs Löschzügen versuchte man den verheerenden Brand in den Griff zu bekommen. Aus mehreren Rohren gleichzeitig wurden mit Tonnen von Wasser die Brandherde im Altarraum der Kirche und im Gemeindesaal bekämpft. Im Lichtschein der Lampen sahen wir den Kronleuchter in der Thermik meterweit hin und her schweben wie eine Schaukel. Irgendwann kam die Information zu mir: „Ihre Kanzel ist soeben in die Tiefe gestürzt.“ In das Kirchendach wurden Löcher geschnitten und Löschschaum hineingepresst, um das äußere Kirchendach zu retten und damit auch ein Übergreifen auf die Nachbargebäude zu verhindern. Deren Bewohner waren längst alle geweckt und auf eine eventuelle Evakuierung vorbereitet worden.
Wir versuchten zu retten, was zu retten war. Mobiliar wurde eiligst hinausgeschleppt. Die Männer hatten mir eine feuerfeste Schutzjacke gegeben. So konnte ich mitarbeiten. Unter anderem ergriff ich den Ständer mit sämtlichen Kostümen für das Krippenspiel an Heilig Abend. Durch meterhohen Schaum watend zog ich ihn ins Freie. Ich dachte an den Gottesdienst, der in wenigen Stunden beginnen würde und plante ihn in Gedanken im Bürgerzentrum. Auf meine Bitte hin, holten einige Männer die Lautsprecheranlage aus dem Schrank auf der Bühne des Gemeindesaals, ein gefährliches Unterfangen, denn immer wieder stürzten brennende Balken herunter. Das Feuer hatte sich tief in die Holzdecke zwischen Kirche und Gemeindesaal gefressen.
Meine Frau wurde telefonisch in alle Richtungen aktiv. Danach traf unter vielen anderen Menschen aus Eitorf auch eine ganze Reihe von Presbytern ein. Als letzte erschien die Pfarrerin. Als sie das erschreckende Geschehen sah, entfuhr ihr der Satz: „Das habe ich nicht gewollt.“
Die Männer der Feuerwehr arbeiteten hervorragend bis zur Erschöpfung. Es gelang Ihnen, das Außendach zu retten. Gegen 10.00 Uhr, als der Gottesdienst zum 4. Advent im Bürgerzentrum begann, waren die meisten Brandnester gelöscht. Inzwischen war das ganze Ausmaß der Katastrophe zu erkennen. Oben in der Kirche war nichts heil geblieben. Was nicht vom Feuer direkt zerstört wurde, wurde ein Opfer der hohen Temperaturen. Ein großer Teil der tief geschwärzten Kirchenfenster war eingeschlagen. Mehr als ein Drittel des Kirchenbodens war verschwunden. Vom Altar blieb ein Haufen Asche. In der Asche fand sich das bronzene Altarkreuz, das vom Feuer zerlöcherte lila Antipendium des Advents. Nicht weit daneben lag der zerbrochene Osterkerzenständer. Ein Bildhauer hatte ihn aus Granit geschlagen. Die Kanzel lag weitgehend zerstört im Gemeindesaal. Die Bänke, die Brüstung der Empore, die tragenden Balken, alles Holz war tief geschwärzt und vom Brand gezeichnet. Die Pfeifen der Orgel waren geknickt wie eine Ziehharmonika. Die Allen-Orgel, in USA für unsere Kirche gebaut, war wertlos geworden. Auch das neue Konzertklavier von Bechstein, äußerlich unter der Schutzdecke kaum verändert, tönte nicht mehr, hatte Totalschaden.
Der Blick des Betrachters bleibt am Chorkreuz hängen. Schräg und schief hängt es noch an der Wand, schwebt über dem gähnenden Loch des Chores – verbrannt zu Kohle. Die Temperaturen im Bereich des Brandherdes, dem Chorraum, waren so extrem, das kein Putz mehr an den Wänden war. Umso verwunderlicher, dass das runde Fenster über dem Chorkreuz, die Lutherrose, unbeschädigt war. Der leichte Regen, der die ganze Nacht gefallen war, hatte das Fenster von außen permanent gekühlt und so Glas und Blei vor dem Schmelzen bewahrt.
Die Quelle des Brandes war der Adventskranz gewesen. An einem Stahlseil von der Decke hängend, war er vier Wochen lang über dem Altar geschwebt. Entsprechend trocken waren die Zweige. Die mächtigen Kerzen waren offensichtlich unsachgemäß gelöscht worden. In der Folge entzündete sich der ganze Kranz in der dunklen Kirche. Nachdem die ersten brennenden Teile des Adventskranzes auf den Holzaltar gefallen waren, konnte sich das Feuer rasch 1ausbreiten und seine alles zerstörende Kraft entfalten.
Gegen morgen kam mein Kollege, Pfarrer Lubomierski, auf mich zu. Mit Tränen in den Augen sprach er mir sein Mitgefühl aus. Dann griff er in die Tasche seines Mantels und brachte einen Schlüssel zum Vorschein. Mit den Worten „die Kirchen unserer Gemeinde in Eitorf, in Harmonie und in Merten stehen Ihnen jederzeit zur Verfügung“, übergab er mir den Generalschlüssel für alle katholischen Kirchen. Auch Pfarrer Plümacher erschien sehr früh und bot uns völlig solidarisch die Kirchen in Mühleip und in Alzenbach als Asyl für die kommende Zeit an.
Von evangelischer Seite meldete sich niemand. Nicht am Tage des Brandes und auch nicht danach. Zehn Jahre danach stelle ich fassungslos fest: In einer Gemeinde des Kirchenkreises brennt die Kirche restlos aus und der Superintendent ruft nicht einmal an, geschweige denn fährt er die 13 Kilometer von Hennef nach Eitorf. Ebenso kommt kein Zeichen kommt von der Kirchenleitung, keine Ankündigung von Solidarität, von baufachlicher Unterstützung, von finanzieller Hilfszusage.
Um 10.00 Uhr beginnt eine verzagte, weinende Gemeinde den Gottesdienst zum 4. Advent im Bürgerzentrum. Ein Trost: mit völliger Hingabe spielen die Kinder das Krippenspiel. In zwei Tagen wird Heilig Abend sein. Was wird werden?
In den Tagen nach dem Brand herrschte bittere Kälte. Massen von Wasser waren während der Löscharbeiten in die Kirche eingebracht worden. Was Feuer und Hitze nicht schafften, besorgten nun Wasser und Frost. Wasser und 7 Grad minus bedeutete für den Putz an den Wänden und für sämtliche Holzböden Totalschaden.
An Heilig Abend feierten wir Gottesdienst in St. Patrizius. Nicht nur evangelische Christen kamen zur Christvesper um 18.00 Uhr in die völlig überfüllte Kirche, sondern aus Solidarität auch viele katholische Christen. Ich erlebte viel Zuspruch am Ausgang. Fast jeder sagte ein Mut machendes, tröstendes Wort. Viele boten ihre aktive Hilfe für die kommende Zeit an.
Am 31. Dezember 2001 erlebte ich meinen denkwürdigsten Geburtstag. Die Kirche war inzwischen leer geräumt. Mit einer Andacht nahm ich mit der Gemeinde Abschied von unserer alten Kirche. Vor dem gähnenden Loch im Kirchenboden stand der Altar aus der Sakristei. Wir verteilten Kerzen, um die Kirche zu erleuchten, denn die rußgeschwärzten Fenster ließen kein Licht herein. Nur das verkohlte Chorkreuz war angestrahlt. Aus tränenerstickten, dünnen Stimmen erklangen die Lieder zum Jahresende. A Capella sang Nina Grützner das Spiritual „Sometimes I feel like a motherless child“. Damit drückte sie unser aller Gefühle aus. Wir waren mutterlose Kinder. Nach dem Segen gingen die Heimatlosen hinüber in die katholische Schwesterkirche, unserem Asyl.
Es begann die Zeit der Depression.